После августа 2020: истории ЛГБТ+ людей в Беларуси

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"Stimmen aus Belarus" ("Voices from Belarus") is a project by translators, scholars of literature and cultural studies and historicians, launched on facebook in August 2020. Together we give people from Belarus a german voice.

„Stimmen aus Belarus“ ist ein Projekt von Übersetzer:innen, Literatur- und Kulturwissenschaftler:innen sowie Historiker:innen, die seit August 2020 gemeinsam Menschen in der Republik Belarus auf Deutsch eine Stimme geben.

https://www.facebook.com/Belarusstimmen

 

ERSTE GESCHICHTE

I

Ich wurde am 11. August in der Nähe der Heldenstadt-Stele festgenommen – wir wohnen dort. Ich war auf dem Heimweg von der Arbeit und wurde verhaftet. Vor mir lief ein Mann mit seiner Freundin, sie kamen durch. Mich nahmen sie mit. Als ich im Awtosak [Gefängnistransporter – Anm. d. Ü.] Platz nahm, hatte ich noch eine kleine Hoffnung, dass sie mich freilassen – „niemand wollte sterben“, wie man so sagt. Du weißt nicht, was kommt, denkst aber, dass sie dich wahrscheinlich schon einbuchten und schlagen werden.

So kam es auch. In der Summe bekam ich 13 Tage Haft, von denen ich 3 absaß. Erst brachten sie uns in die eine ROWD [„Bezirksabteilung für Inneres“, Polizeistation – Anm. d. Ü.], dann in eine andere. In beiden wurden wir grob behandelt. Ich war moralisch darauf eingestellt, physisch jedoch nicht, wie sich herausstellte. Ich kann natürlich die üblichen Übungen ausführen, aber stundenlang knien, die Hände hinter dem Kopf, das Gesicht auf dem Boden – das kann ich nicht.

Im Okrestina-Gefängnis verbrachten wir eine Nacht. Die Zelle war 4x4 Meter groß, vielleicht ein bisschen mehr. 78 Menschen in einer 4x4-Meter großen Zelle unter freiem Himmel – wir konnten weder normal liegen noch sitzen. In einer Ecke die Latrine. Wir versuchten uns so zu arrangieren, dass alle ein bisschen schlafen konnten. Es war unmöglich – einige mussten immer stehen, während andere schlafen konnten. Gleichzeitig wird auf dem Hof jemand geschlagen. Die ganze Nacht schreien sie, und du weißt nicht, ob das immer dieselben Leute sind oder nicht. Und wenn ja, wie kann man das so lange überleben? Später hörten wir, dass das wohl verschiedene Menschen waren. Sie brachten immer mehr und mehr Leute her, die dann die Nacht über auf dem Hof knien mussten, Kopf auf dem Boden, denn es gab keine Zellen mehr. Und wenn sich einer bewegte, schlugen sie alle und es schien, als würden sie sie halbtot prügeln. 

II

Wenn du zum ersten Mal festgenommen wirst, ist die schwierigste Zeit ganz am Anfang. Auf der Polizeistation war es sehr schwer. Der Großteil der Erniedrigungen auf der Polizeistation fand vor der Vernehmung statt. Wenn ihnen etwas nicht gefiel, schlugen sie zu. Ich selbst wurde zwar nicht geschlagen, aber wie mit uns gesprochen wurde, war grausam - unter anderem wurde mit Schlägen gedroht. Einmal mussten wir in die fünfte Etage hochlaufen, und der OMON-Beamte, oder wer auch immer er war, führte mich absichtlich auf eine so demütigende Weise, dass ich ihn bat aufzuhören. Die Schnürsenkel haben sie dir schon abgenommen, du stolperst, versuchst, im Tritt zu bleiben, aber er geht mal schneller, mal langsamer. Am Ende konnte ich kaum noch laufen, aber er zog mich und drückte mich so stark auf die Stufen runter, dass ich auf meine Haare trat. Ich begriff, dass er das absichtlich tat, um mich zu erniedrigen. Das war der härteste Moment.

Dann gab es noch so einen Moment, als sie das Protokoll anfertigten. Ich wurde gezwungen, mich auf den Boden zu legen. Die Tür des Dienstraumes steht offen, du liegst ausgestreckt auf diesem Boden, und Leute laufen hin und her und steigen über dich rüber. Das war ziemlich seltsam. Wahrscheinlich hatten sie etwas in meinem Telefon gefunden, Hornet [ein queeres Social Network, Anm. d. Ü.] oder irgendeinen Chat, und einer sagte: „Ah, du bist einer von denen!“ und gab mir ein oder zwei Ohrfeigen. Das tat nicht extrem weh, kam aber unerwartet. Ich lag ja mit dem Gesicht nach unten und er schlug mich einfach unvermittelt. Ich gab keine Antwort. Mir machte es keine Angst, dass sie herausfinden, dass ich eine LGBT Person bin. Aber sie versuchten wahrscheinlich mich zu provozieren, um eine Reaktion zu sehen. „Ah, du bist einer von denen? Dann kannst du nicht ins Gefängnis...“ Aber entweder aufgrund der großen Menschenmenge oder weil ich keine Reaktion zeigte, ließen sie mich ab da letztlich in Ruhe.

III

Der angsteinflößendste Moment war der, in dem ich nicht wusste, was weiter passieren würde. Dass es im ROWD roh zugeht, dass sie in Okrestina brutal sein würden – das war erwartbar, ich hatte schon davon gehört und wusste, was passieren würde. Es war für mich also psychisch nicht so herausfordernd. Wie sie die Leute im Hof von Okrestina schlugen, war natürlich eine offensichtliche Bestätigung für den Albtraum, der vor sich geht. Doch selbst davon hatte ich schon gehört. Als sie uns aus der Polizeistation aber dann in irgendeine Sporthalle brachten, wirkte das wie eine Verschleppung, als würden wir zur Erschießung in einen Wald gebracht. In dem Moment hatte ich Angst. Mein Verstand sagte mir „alles in Ordnung“, das ist nur eine Etappe, von der ich noch nichts gehört habe, aber im Inneren kam Panik auf. Bis heute weiß ich nicht genau, wo wir da waren.

In der Sporthalle legten sie uns ausgestreckt auf den Boden, fesselten die Hände, und ließen uns so liegen. Natürlich hatten wir das Bedürfnis zu schlafen, aber ob du schlafen kannst oder nicht, hängt davon ab, wie deine Hände gefesselt sind. Das war Glückssache. Einem jungen Mann hatten sie die Hände so gefesselt, dass er danach kein Gefühl mehr in den Fingern hatte. Ich versuchte so zu tun, als hätte sich der Kabelbinder zufällig gelockert... Und das funktionierte.

Dann gab es am Anfang noch eine Situation, in der sie uns auf den Boden legten und verkündeten: „Wenn ihr Wasser braucht oder auf Toilette müsst, hebt die Hand. Noch Fragen?“ Ich hob die Hand und fragte: „Für wie lange sind wir festgenommen?“ Zuvor hatten sie uns die Regeln erklärt: Wenn einer sie verletzt, stehen alle auf und müssen knien. Jetzt sagte er also, dass alle aufstehen sollen. Fragen seien verboten. Was hast du dir davon versprochen? Da hast du’s nun, alle werden bestraft. Das vermittelt dein Eindruck, dass sie dir zeigen wollen, dass du kein Recht auf irgendetwas hast. So eine absolute Autorität.

Eine Nacht lang lagen wir auf dem Boden in dieser Sporthalle, am nächsten Tag richteten sie uns auf, stellten uns an der Wand auf und ließen uns die Nationalhymne singen. Wer holperte, wurde geschlagen. Ich hatte erst Mühe zu stehen, aber dann fand ich plötzlich neue Kräfte in mir. Wie das genau geschah, weiß ich nicht, aber in einem Moment konnte ich kaum stehen, und im nächsten waren die Schmerzen weg. Danach konnte ich wieder stehen, und ertrug sowohl das „Kopf auf den Boden“, als auch das Stehen an der Wand und wenn es sein musste, sogar das Knien.

Dann brachten sie uns nach Okrestina.

IV

In Okrestina gab es eine Situation, von der ich bislang fast niemandem erzählt habe. Wir wurden lange im Hof festgehalten, zwei Stunden, vielleicht mehr, bevor wir in die Zelle gebracht wurden. Anstatt einer Zimmerdecke gab es oben nur ein Gitter. Die Zelle war 5x5 oder 4x4 Meter groß, vielleicht ein bisschen mehr. In der Ecke die Latrine, einfach ein Loch im Betonboden. Keiner wäre auf die Idee gekommen, dass das eine Toilette sein soll. Zuerst denkst du – zur Toilette bringen sie uns wahrscheinlich. Ich dachte das jedenfalls. Aber es stellte sich heraus, dass es dieses Loch gibt und man dort all seine Bedürfnisse verrichten soll. Wir waren 78 Menschen in der Zelle, wir haben durchgezählt. Und nachts fanden natürlich nicht alle Platz. Es gab ja keine Betten, nur den Betonboden und Betonwände. Dieses Klo-Loch war in keiner Weise abgegrenzt und natürlich wollte sich niemand in dieser Ecke aufhalten. Gefühlt drei Stunden lang versuchten wir uns so zu positionieren, dass alle Platz haben. Wir versuchten verschiedene Positionen – Rücken an Rücken, um nicht an der kalten Wand lehnen zu müssen. So reichte der Platz aber nicht. Also versuchten wir zu sitzen, indem wir den einen Latschen unter den Po legten und auf dem anderen die Füße abstellten, doch das klappte auch nicht gut. Dann setzten wir uns einander auf die Füße. So passten wir am besten in den Raum, auch wenn immer noch einige standen. Also wechselten wir uns ab mit schlafen und stehen, wobei schlafen unmöglich war, wir dösten eher. Die ganze Nacht über wurden im Hof Menschen geschlagen, wie hörten all diese Schreie. Und da umarmte mich plötzlich der Mann, der hinter mir saß. Und ich umarmte den Mann vor mir. So saßen wir dann. Es war ein solches Gefühl der Ruhe. In dieser Welt, in der dich alles attackiert, findest du dich doch in dieser Zelle wieder. Es war traurig, aber gleichzeitig ein großes Glück. Wir waren am Leben.

V

Ich denke, ich werde das Land verlassen. Ich will einen Job finden und ins Ausland gehen. Warum ich mich so entschieden habe? Unter anderem, weil meine Eltern Lukaschenko unterstützen. Sie haben für Lukaschenko gestimmt. Meine Mutter setzte mich ständig unter Druck, all diese Gespräche darüber „warum gefällt es dir hier nicht?“ usw. Die Tatsache, dass meine Mutter für Lukaschenko ist, ist für mich in gewisser Weise Verrat. Die Mutter bringt dir die Grundlagen bei, was richtig und was falsch ist. Ich habe, glaube ich, bis heute die naive Vorstellung, dass es offensichtliche Wahrheiten gibt – zum Beispiel, wenn geschlagen wird, dann ist das ganz klar schlecht, wenn sich im Land nichts entwickelt – dann ist das schlecht. Aber sie meint nur: „In den Neunzigern war es schlecht, aber das haben wir überlebt...“ Und du weißt nicht, was du erwidern sollst.

Zu den Wahlen bin ich nach Hause gefahren. Meine Eltern hatten vorfristig abgestimmt, ich bin am Sonntag wählen gegangen. Ich hätte auch in Minsk meine Stimme abgeben können, aber dann wäre es leichter gewesen, meine Stimme zu stehlen, also bin ich nach Hause gefahren. Ich war sehr lange nicht mehr in meiner Schule. Es war etwas unangenehm und beängstigend, dorthin zur Abstimmung zu gehen, dort vielleicht die ehemaligen Lehrer zu treffen und zu wissen, dass sie vermutlich später das Ergebnis fälschen. Vorher hatte ich schon im Internet gelesen, dass meine Klassenlehrerin Vorsitzende der Wahlkommission ist. Ich ging dorthin, um meiner Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Ich ging hin, um meinen Wahlzettel zu fotografieren, egal, was dort passiert. Ich ging also vorsichtig durch das Foyer zu den Tischen hin, in der Erwartung, von meinen Lehrern aufgehalten oder am Fotografieren gehindert zu werden. Aber meine Klassenlehrerin erkannte mich, kam auf mich zu und dann unterhielten wir uns ziemlich lange. Es stellte sich heraus, dass sie Lukaschenko nicht unterstützt, über die Proteste Bescheid weiß und über die Ereignisse von 20101. Ich fragte sie ganz direkt, ob sie die Ergebnisse fälschen wird und sie verneinte. Das war eine echte Begegnung, Unterstützung, wir umarmten uns am Ende, das war sehr angenehm, als wären wir „auf derselben Seite“. Später sah ich, dass in meinem Wahlbezirk die Stimmen zwischen Tichanowskaja und Lukaschenko in etwa gleich verteilt waren, das war ein glaubwürdiges Ergebnis. Als ich später in der Stadt die Aufkleber „Lehrer sind Verräter“ sah, war das bitter. Ich stimme durchaus zu, dass wahrscheinlich viele die Ergebnisse gefälscht haben. Aber meine Lehrer waren korrekt. Das bringt mich zum Weinen. Andererseits ist das ganz normal. Es sollte normal sein.

Mit meinen Eltern habe ich absolut nie das Gefühl, dass wir „auf derselben Seite“ stehen. Selbst zu der Lehrerin als Mutterfigur fühlte ich mehr Wärme, als das bei meiner Mutter der Fall ist. Ich liebe meine Eltern, aber gleichzeitig sind sie meine Feinde. Sie halten es für unnormal, schwul zu sein. Zu meinem Aktivismus sagen sie „Wann hörst du auf, dich mit diesem Unsinn abzugeben?“. Sie waren praktisch gegen alles, was mich je interessiert hat. Wir hatten immer ein Verhältnis in der Art „wir nehmen dich nicht an“. Ich dachte, dass sich mit meinem Comingout etwas ändern würde, aber so war es nicht. Sie verhielten sich immer feindselig gegenüber meinen Interessen und auch gegenüber meiner Orientierung. Das Comingout hat daran nichts geändert. Mittlerweile ist diese Feindseligkeit vielleicht etwas geringer, aber nur, weil ich mich bemühe, das Thema einfach nicht mehr anzusprechen.

Ja, sie waren da, um mich abzuholen, als ich entlassen wurde. Sie nahmen auch Kontakt zu meinem Freund auf, um „Bescheid zu wissen, was mit mir los ist“. Nach meiner Freilassung saßen wir zusammen in einem Café, das war wie eine Familienvereinigung, aber trotzdem sind sie nach wie vor für Lukaschenko und achten darauf, dass ich nicht zu Demos gehe. Meine Mutter rief mich jeden Abend an und bat mich nicht rauszugehen. Ich versuchte zu argumentieren, sie zu ignorieren... Nach meiner Freilassung wurde ich zum „prophylaktischen Gespräch“ vorgeladen. Ich weiß, dass es keine Pflicht ist, dahinzugehen und das sagte ich ihr auch, ich muss da nicht hin. Der Höhepunkt war, dass meine Mutter zusammen mit meinem Vater zu dem Gespräch ging, um denen zu sagen: „Er hat nie irgendworan teilgenommen, aber er wird trotzdem zu Ihnen kommen“. Und auf mich hat sie weiter Druck gemacht – geh hin, geh hin. Sie rief mich ständig an, redete auf mich ein, und da bin ich, wahrscheinlich durch diese ganze Situation, zusammengeklappt. Ich bin nachts aufgestanden, ins Bad gegangen und bin in Ohnmacht gefallen. Mein Freund war in diesem Moment wach und sah, dass ich da lag... Ich lag da und hatte Krämpfe. Ich war gegen die Wand gefallen, später stellte sich heraus, dass eine Rippe angebrochen war, ein geschlossener Bruch. Das war für mich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich wusste, dass ich das Land verlassen muss – denn das ist schon ein direkter Angriff, wenn deine Gesundheit beeinträchtigt wird.

Den Mann, der mich in Okrestina umarmt hatte, lernte ich später richtig kennen und wir trafen uns eine Zeitlang. Wir blieben in Verbindung. Er ist pansexuell. Das ist so eine wunderbare Geschichte. Ich war drauf und dran, das Land zu verlassen, und dann sowas, „hey, hier gibt’s auch noch Leben“. Eigentlich eine unglaubliche, magische Geschichte. Du denkst, wie kann das sein, was ist das? Manchmal scheint mir, dass das Leben dir viele deiner Wünsche erst dann erfüllt, wenn du es nicht mehr nötig hast. Diese Ungerechtigkeit macht mich traurig. Warum ist das so? Wie soll man damit umgehen?   

Übersetzung aus dem Russischen: Tina Wünschmann

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