После августа 2020: истории ЛГБТ+ людей в Беларуси

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SECHSTE GESCHICHTE

I

Ich heiße Set, ich bin 26 Jahre alt, ich komme aus einer Kleinstadt in Belarus. Als die Proteste am 9. [August 2020 – Anm. d. Ü.] begannen, musste ich arbeiten. Ich versuchte, die Schicht zu verschieben, aber das klappte nicht. So musste ich das ganze Grauen aus meiner Höhle verfolgen – manche Infos schickten mir Leute, die in meiner Heimatstadt waren, manche Infos schickten Leute, die hier [in Minsk – Anm. d. Red.] waren. Wenn das Internet mal für buchstäblich ein-zwei Sekunden funktionierte, konnte ich sehen, was auf den Straßen passierte. Deine Leute werden verstümmelt und verprügelt, und du sitzt nur da und schaust zu – das war nicht schön.

Also entschieden wir uns am 10. August, auf den Protest zu pfeifen und für eine konkrete Sache loszugehen. Wir sammelten Medikamente, Mullbinden, Desinfektionsmittel und Wasser und brachten sie zu den Menschen. Uns war es nicht so wichtig, an den Protesten selbst teilzunehmen. Uns war es wichtig, uns um die Leute zu kümmern, die verletzt worden waren, die gerade so entkommen konnten, und ihnen zu helfen. Der Zehnte [August – Anm. d. Ü.] – das war die Hölle! Wir schauten, wohin die Menge zog, und bewegten uns in einiger Entfernungen mit. Wir mussten immer bereit sein, wegzulaufen und die minimalen Erfahrungen zu nutzen, die wir hatten - einfach um die Menschen um uns herum zu schützen. Wir sind nicht alle Krieger und Kämpfer in dem Sinne, wie es bei diesem Protest nötig gewesen wäre. Darum fiel um zwei Uhr nachts die Entscheidung, für diesen Tag aufzuhören und die Menschen, die mit uns da waren, nach Hause zu bringen. Wen wir nicht bringen konnten, nahmen wir bei uns auf, damit niemand durch die Straßen laufen musste – am nächsten Morgen sollte es leichter sein.

Am Elften dann kam ein Anruf von meiner Arbeit, sie sagten: „Du hast eine Stunde Zeit, pack zusammen. Wir haben ein Team zusammengestellt, ein Auto aufgetrieben, ihr fahrt alle weg.“ Fast einen Monat verbrachten wir in der Ukraine. Ausweglos. Das war schwer, aber ich hatte keine Wahl. Ich darf meine Arbeit nicht verlieren. Nach der Rückkehr und der zweiwöchigen Quarantäne ging ich sofort wieder auf die Straße. Aber so etwas Grauenhaftes wie am 9. und 10. gab es da nicht mehr.

II

Wenn du in einer Stadt mit 100.000 Einwohnern lebst, braun bist und orientalische Gesichtszüge hast, und alle mehr oder weniger sozial aktiven Leute rechtsradikal sind, musst du irgendwie überleben. Zuerst verinnerlichst du die Homophobie. Du verstehst, dass du zwar lange nicht straight bist, aber du lernst das zu hassen und es durch diesen Hass maximal zu verstecken. Wenn es in deiner Familie bei jeder beliebigen Erwähnung der LGBT-Community heißt „Päderasten muss man verbrennen und erschießen“, wenn du jahrelang dazu getrieben wirst, dich selbst zu hassen, dann beginnst du das am Ende zu tun. Ich schloss mich einer faschistischen Bewegung an und war so wenigstens nicht ständig dieser Gewalt ausgesetzt. Man kannte mich, ich konnte ein paar Namen nennen, darum wurde ich teilweise in Ruhe gelassen. All das lief auf rassistischer Grundlage und natürlich wusste niemand, dass ich queer bin, sonst hätte ich alle meine Privilegien komplett verloren. Du wirst verdächtigt, man schaut auf dich herab, du wirst nicht gemocht, aber immerhin auch nicht geschlagen. So in etwa funktioniert das.

Als ich nach Minsk zog, gab es bereits eine Online-Szene, und diese entpuppte sich ehrlich gesagt als noch viel schlimmer als die Szene außerhalb des Internets. Versteckt hinter der Maske der Anonymität kann man online schreckliche Dinge tun, andere mobben und bis zum Selbstmord treiben, ganze Kampagnen brutalster Erniedrigung von Menschen fahren. An eine solche Kampagne erinnere ich mich: Ein Mädchen mit einer Behinderung wurde dafür fertiggemacht, dass sie Beiträge feministischer Portale teilte. Sie versuchte sich umzubringen, beim zweiten Versuch gelang es. Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte gedacht, wir würden uns für irgendeine „Stärke der Nation“ einsetzen, dass wir da wären, um solche Fälle zu verhindern. Doch dann stellte sich heraus, dass wir das Böse sind, das die Menschheit daran hindert, sich normal zu entwickeln. Ich sagte mir: Nein, ich muss hier raus. Damit begann ein langer Prozess, mich aus dieser Scheiße herauszulösen. Jetzt bin ich hier.

Ich habe alle sozialen Verbindungen abgebrochen, saß allein zuhause und tat gar nichts mehr. Ich hatte Glück und lernte einen Menschen (meine künftige Frau) kennen, mit der ich nun zusammen bin. Sie ist queer. Wegen meiner ultrarechten Einstellung verlief unser erster Kontakt nicht besonders gut. Ein Jahr verging, bis wir wieder miteinander sprachen. Da war ich schon ein bisschen weniger reaktionär, weniger durchdrungen davon, und die Kommunikation gelang besser. Es war wichtig, dass da ein Mensch war, der mir erklärte, was vor sich ging.

Was wird dir über Prides erzählt, wenn du in jener Szene bist? Das seien „Degenerierte, die rausgehen, um die Kinder zu ihrem furchtbaren Glauben zu bekehren“.

Was erfährst du von der LGBT-Community selbst? Du erfährst die Geschichte, wie alles begann und warum das alles wirklich passiert. Die Leute gehen raus, weil es ihnen bis heute beschissen geht. Und wenn es auch nur irgendeinen Freiraum gibt, warum diesen dann nicht nutzen, warum nicht den Menschen um einen herum zeigen, dass es normal ist man selbst zu sein?

Was denkst du über die Probleme von trans Personen? Das seien kranke Menschen oder Leute, die einen Nebenjob suchten oder denen „schreckliche und furchtbare Linke“ das Hirn gewaschen hätten. Was erfährst du über trans Personen, wenn du zur LGBT-Bewegung kommst? Dass das einfach Menschen sind, das ist alles. Es gibt da keine „gemeinsame Ideologie“, obwohl es mir früher illusorischer Weise so vorkam, als gäbe es eine.

Das war eine Identitätskrise. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte mich schon mit der Tatsache versöhnt, dass ich queer bin, und dass ich mich nicht unter Druck setzen muss („Leb dein Leben und lass andere in Ruhe“). Aber ich verstand nicht, was innerhalb dieser Bewegung passierte, warum sie so ist, wie sie ist. Wenn du die Geschichte nicht kennst, ihre Wurzeln nicht kennst, dann verstehst du nicht, warum Menschen bestimmte Dinge tun. Und so wurden diese Dinge langsam verständlicher und leichter zu akzeptieren, als sie einen größeren Kontext erhielten – angefangen bei den Prides (das Einfachste, was man Menschen erklären kann) bis hin zu Fragen der Präsenz von trans Frauen im Frauensport.

III 

Als ich den Queer-Block auf den Protesten entdeckte, bekam ich Angst. Ich schaute in die Hof-Chatgruppen, was darüber gesagt wird. Und alle meine Befürchtungen bestätigten sich: Ich sah, dass die Gesellschaft leider nicht bereit ist, LGBTQ als Verbündete anzunehmen. Es gab auch Unterstützende, aber der allgemeine Konsens war „Wozu brauchen wir die?“. Mein Beitrag bestand dann vor allem darin, dass ich in den Chat ging und reaktionäre Aussagen diesbezüglich unterband. Als ausreichend gutes Argument akzeptierten die Leute: „Seid ihr etwa schon zu viele? Sie setzen sich jetzt nicht für die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen ein, sondern gegen die Diktatur, gegen den Tod, gegen die Gewalt, die sie um ein Vielfaches härter spüren als du – also halt den Mund und akzeptier deine Verbündeten!“.

Mir scheint, da ist so ein Unwille, den politischen Prozess der Proteste auch nur eine Woche vorherzusehen. Sie wissen, dass morgen „die Päderasten rausgehen“, und denken, „wir brauchen keine Päderasten“. Das ist der gesamte Gedankengang. So erweitert ihr zwar ein wenig das Fenster des Zulässigen, indem ihr zu den Protesten geht, aber letztlich unterscheidet ihr euch nicht besonders von jener Bewegung, gegen die ihr kämpft, wenn ihr keine Verbündeten annehmen könnt.

Es kam nie vor, dass eine Protestbewegung, die sich versammelte und etwas gemeinsam erreichte, sich nach dem Sieg nicht untereinander zerstritten hätte. Aber um einen so seriösen Unterdrückungsapparat wie den Staat – erst recht einen solchen, wie er hier existiert – zu stürzen, reichen nicht ein paar Dutzend Sozialisten, es braucht auch Konservative und Marktwirtschaftler. Die meisten Menschen verstehen das. Als Leute mit schwarzen Flaggen auftauchten, hörte ich, wie manche sagten: „Ich mag die Anarchisten nicht, aber wenn sie schon bei uns sind, sind sie wohl doch ganz in Ordnung.“ Auch wenn es Abneigung gab, endete diese in dem Moment, in dem es hieß: „Egal, sie sind mit uns rausgegangen.“ So war es mit allen. Die einzige Gruppe, für die es schwieriger war, war die LGBTQ-Community.

IV 

Nach dem Mord an Roman Bondarenko gingen meine Frau und ich zuerst zum Memorial für Tarajkouski9, um Danke zu sagen, dann wollten wir am Platz des Wandels gedenken. Das war am 15. November, als dort brutale Festnahmen passierten. Man schleppte mich in einen Kleinbus, erst schlug man mich mit den Händen, dann wollte man mich treten, aber weil sich der Bus ja bewegt, ist das nicht gelungen. Als sie verstanden, dass Treten nicht funktioniert, trat einer von ihnen auf meinen Hinterkopf und drückte mein Gesicht in den Boden, so dass eine rote Kruste zurückblieb. Aber im Vergleich dazu, wie viele andere misshandelt wurden, kann man sagen, dass sie mich nur gekitzelt haben.

Dann führte man uns aus dem Bus in einen Awtosak, dort fragte man: „Ist der normal oder nicht normal?“– „Naja, so einer eben.“ Diese Frage „normal oder nicht normal?“ wurde bei allen Ankommenden gestellt. Wenn sie sagten „nicht normal“, begann das Verprügeln. Sprechen kannst du mit ihnen nicht, darum gehst du einfach schweigend weiter und tust, was sie sagen. Wir wurden ins Bezirksrevier gebracht, wo ein 12-stündiger Registrierungsprozess begann, nach dem uns erklärt wurde: Diese Gruppe fährt jetzt nach Schodino, jene Gruppe nach Okrestina, diese hier lassen wir frei.

Wir wurden wieder in einen Awtosak geführt, auf die Knie gedrückt, Hände hinterm Kopf, und so saßen wir mit gesenktem Kopf noch zwei Stunden – der Kompressor war kaputt gegangen und wir mussten auf einen Neuen warten. Sie wollten sich gerne unterhalten, aber sobald du begannst zu antworten und ihnen irgendetwas nicht gefiel, schlugen sie auf alle um sich herum ein. Übrigens „erklärten“ sie uns sofort all diese Gewalt: „Jede eurer Bewegungen, jeden Versuch zurückzuschnappen, werden wir als Aggression gegen uns lesen und Sondermittel gegen euch anwenden. Alles klar?“ Als sie uns nach Schodino brachten, steckten sie zwanzig von uns in eine Achter-Zelle. Die ersten paar Tage waren nicht besonders gut. Am Tag durften wir nicht einmal auf den Liegen sitzen. Nachts sollten wir wo schlafen? Zwanzig Menschen können sich nicht normal in dieser Zelle verteilen, darum mussten manche an der Heizung schlafen, die so bollerte, dass es dich fertig machte. Manche schliefen auf dem Boden. Wer Glück hatte, ergatterte eine Liege und schlief auf den Liegen. Aber wir hatten nicht einmal Matratzen bekommen.

Dann kamen die Gerichtsverhandlungen: Der Prozess verlief via Skype, Zeugen hatte kaum jemand, nur diejenigen, die welche forderten. Ich sagte vor dem Gericht die Wahrheit, dass ich nicht zum Protest gekommen war, sondern um der Toten zu gedenken. Parolen hatte ich auch nicht gerufen. Ich bekam zehn Tage.

V

Die OMON-Leute fragten jede Gruppe, die ihnen in die Hände fiel, „wer unterstützt hier Päderasten“? Sag lieber nicht, dass du sie unterstützt, denn dann bekommst du dafür eine besonders hässliche Behandlung. Und wenn du „einer von denen“ bist – davon sprich am besten überhaupt nie im Leben. Die einzigen, die etwas dazu sagen konnten, waren offensichtlich Straights. Nur sie konnten diese Bewegung in dieser Situation wenigstens ansatzweise verteidigen.

Wenn Du ein besonders verschlossenes Männerkollektiv siehst, das sich ohne Ende gegenseitig verarscht – dann bedeutet das Thema definitiv etwas für sie. Ich denke, das ist eine Art, Dominanz zu zeigen. Hier kann ich eine Parallele zu meiner früheren Szene ziehen. Die Abneigung gegenüber der Homosexualität ist eine einfache Weise, eine toxisch maskuline Gruppe zu bilden - wenn die Leute nicht gebildet sind, wenn sie in ihrem Leben nie mit Angehörigen der LGBTQ-Community zu tun haben und alles, was sie hören, ausschließlich Staatspropaganda ist. Diese Homophobie wird so stark aufgebauscht, weil sie nichts anderes haben, von dem sie sich klar abgrenzen können. Um über soziale Probleme und Politik zu sprechen, braucht es ein tiefgründiges Verständnis dieser Dinge.

Innerhalb unserer LGBTQ-Kreise diskutierten wir, was passierte. Wenn es irgendwelche Errungenschaften gab, freuten wir uns. Wenn es schlimmer wurde, weinten wir. Ich habe nicht gerade weit reichende soziale Kontakte, aber praktisch jede LGBTQ-Community, mit der ich irgendwann einmal Kontakt hatte (mit sehr seltenen Ausnahmen), war immer absolut gegen Gewalt. Das heißt, selbst wenn sie uns schlagen, töten, foltern in Okrestina über mehrere Tage – wir bleiben trotzdem friedlich. Ich denke, der Grund dafür ist die Geschichte der Gewalt gegenüber der LGBTQ-Community selbst. Nach dem Motto: Wir haben Gewalt erlebt, und wir verstehen, dass Gewalt immer schlecht ist, gegen wen auch immer sie sich richtet. Da ich noch nicht so lange in der Szene bin, verstehe ich das nicht. In meiner früheren Gruppe hätten die Leute so nicht gehandelt. Darin liegt das Hauptproblem und die Hauptkraft der Rechten: Sie sind bereit, jede beliebige Möglichkeit zum Vorantreiben ihrer Ziele zu nutzen, egal, das Wichtigste ist das Resultat. Aber ihr Ergebnis ist eine unendliche Fortsetzung der Gewalt.

Ich verstehe, dass es nach den Protesten besser wird, freier, aber der Protest selbst löst nicht unsere tiefen sozialen Probleme, er löst nicht das Problem jener kleinen Gruppe von Menschen, der ich angehöre. In den nächsten zehn Jahren wird die gleichgeschlechtliche Ehe hier nicht legalisiert, wird es nicht normal sein, sich offen als Schwuler mit meiner Hautfarbe auf der Straße zu zeigen. Dafür braucht es Veränderungen an der Wurzel unserer Gesellschaft. Darum will ich ausreisen, wenn nicht jetzt, dann irgendwann. Und dieser Wunsch hat nichts mit den Protesten zu tun. Ich denke schon immer darüber nach, auszuwandern. Ich habe keine Freude an dieser Gesellschaft, ich erkenne mich selbst in ihr nicht wieder… Ich fühle mich hier nicht wie ich selbst, nicht zuhause, und das habe ich mich auch nie gefühlt. Zum ersten Mal fühlte ich mich selbst in Dubai gut und zuhause, wo dich niemand anschaut und es allen egal ist. Dort bist du einfach einer von einer riesigen Anzahl verschiedener Menschen, Nationalitäten, Kulturen, die sich hier aufhalten.

Übersetzung aus dem Russischen: Peggy Lohse

 

SIEBTE GESCHICHTE

I

Im Jahr 2019 sammelte die Stiftung „Offene Herzen“, unterstützt von der Katholischen Kirche Belarus und deren damaligem Oberhaupt Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz, 52.000 Unterschriften mit einer Petition, die fordert, das Verbreiten von Informationen über LGBT Personen zur Straftat zu erklären. Im Februar 2020 trafen wir uns mit anderen LGBT-Initiativen zum Brainstorming, was wir als LGBT-Community dagegen tun können. Ein Punkt war, dem Papst in Rom einen Brief zu schreiben mit der Bitte, den Hass zu verurteilen. Unser Ziel war es, dass der Papst öffentlich, auf der globalen Bühne das Wort „Belarus“ aussprach. Wir wollten, dass man von uns hörte.

Am 5. März 2020 schickten wir den Brief an den Papst ab.

Am 9. März 2020 veranstaltete die Stiftung „Offene Herzen“ eine Pressekonferenz zu den Resultaten ihrer Petition. „Die Katholische Kirche unterstützte diese Initiative, da sie den Lehren Jesus’ Christus entspricht“, sagte Tadeusz Kondrusiewicz dort.

Wir begannen, eine eigene Pressekonferenz mit Eltern von LGBT Personen vorzubereiten, konnten sie aber nicht mehr durchführen. Am 11. März 2020 rief die WHO die weltweite Corona-Pandemie aus, in den Nachrichten war kein Raum mehr für andere Themen. Also sagten wir das Treffen ab.

Heute scheint es, als wäre das alles in einem anderen Leben gewesen.

Am 16. August 2020 sagt Papst Franziskus während seiner traditionellen Predigt auf dem Petersplatz im Vatikan: „Ich vertraue alle Belarusen dem Schutz der Muttergottes an, der Königin des Friedens.“

II

Was weiß ich über (Un-)Sichtbarkeit? Als Belarus:in. Als LGBT+ Person. Als nichtbinäre Person in Belarus.

Bis zum August 2020 überlagerten und entsprachen sich meine Erfahrung als Belarus:in und als LGBT+ Person. Ich spürte meine Unsichtbarkeit als queere Person innerhalb der heteronormativen Welt ebenso, wie auch Belarus immer unsichtbar war für die Außenwelt.  Und meine Zugehörigkeit musste ich immer wieder mit vielen Wörtern und alternativen Bezeichnungen erklären. „Where are you from?“ – „From Belarus.“ – „?“ – „It’s between Russia and Poland.“ Und plötzlich spürte ich mit jeder Zelle meines Körpers, wie das ist, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, wenn alle Blicke auf dich gerichtet sind. Belarus wurde ein Teil der internationalen Berichterstattung. Die übermäßige Gewalt machte uns sichtbar und stellte uns auf die Weltkarte. Warum aber erwies sich diese neue  und lang ersehnte Erfahrung, Sichtbarkeit zu erleben, als so schwer zu verarbeiten? Vielleicht, weil ich „mit jeder Zelle meines Körpers“ gleichzeitig das Gegenteil spürte: dass es für mich hier keinen Platz gibt, dass ich nicht da bin. Das war das gleichzeitige Erleben von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie man mit dieser aktiven Aufmerksamkeit klarkommen kann, die dir in diesem Moment zuteil wird, während dein zweiter wichtiger Teil unsichtbar bleibt. Wie kann man überhaupt zwei einander völlig gegensätzliche Prozesse gleichzeitig durchleben?

Auf den Demonstrationen fühlte ich neben all den anderen Menschen meine Ausgeschlossenheit als queere (nichtbinäre) Person. Besonders bitter wurde dieses Erleben, als sich innerhalb der „Frauenmärsche“ ein Fem-Block bildete: Wie die Leute in den Chats miteinander sprachen (Anrede „Mädels“ usw.), wie man mich zur Teilnahme einlud, ich aber bemerkte, dass sie meine cis Männerfreunde nicht auf diese Weise einluden. Viele meiner Freundinnen liefen am 29. August im Fem-Block mit. Aber ich konnte mich dem einfach physisch nicht anschließen. Und das war schwer. So sehr ich auch versuchte, mir selbst die Irrationalität meines Handelns klarzumachen („All das hat jetzt keine Bedeutung“, „Unwichtig, wer wie diesen Marsch und dich in ihm benennt“ usw.), ich konnte nichts dagegen tun, dass in diesem Moment all meine früheren trans* Erfahrungen unkontrolliert, gegen meinen eigenen Willen auf mich einstürzten. Ich fühlte, wenn sie mich in diesen Marsch aufnehmen, dann nehmen sie mich als Frau(*) auf. Aber ich bin keine Frau (mit oder ohne Stern). Mir scheint, als konnte man cis-Männer auf den „Frauenmärschen“ immer automatisch als Verbündete zählen – und als solche gab es dort auch Platz für sie. Aber wo war meiner?

Wieder durchlebte ich diese schmerzlich bekannte Erfahrung, nicht ich selbst sein zu können. Gerade sie erlaubte es mir nicht, mich jenen Aktivitäten anzuschließen, deren Werte ich tiefgreifend teilte. Sie erlaubte mir nicht, dort neben mir nahen Menschen zu stehen. Erst mit der Entstehung des Queer-Blocks verstand ich, dass nun in den „Frauenmärschen“ auch ein Platz für mich auftauchte.

Am 5. September 2020 organisiert sich zum ersten Mal während eines der regelmäßigen „Frauenmärsche“ der Queer-Block. Ein Tag, an dem sich für mich auf wunderbare Weise zahlreiche Geschichten (darunter auch persönliche) verbanden. Und für alle fand sich Platz. Die Demo-Route begann am Komarowskij-Markt und endete am Platz der Unabhängigkeit. Als dort dann Awtosaki und Kleinbusse vorfuhren, aus denen Leute in Camouflage-Uniform und Masken sprangen, stiegen wir die Treppen zur Roten Kirche10 hinauf und bildeten eine Mauer aus mehreren Reihen. Ich schaute die maskierten Leute an und dachte, wenn sie jetzt anfangen, uns auseinander zu ziehen und zu verhaften, verstecke ich mich dann in der Kirche, dem Ort, wo noch vor Kurzem Unterschriften gegen mich gesammelt worden waren? Von diesen Widersprüchen schien mir fast das Hirn zu explodieren. Aber ich spürte, dass es jetzt doch einen Ort hier für mich gibt, ebenso wie für alle anderen auch.

Der Queer-Block schuf für mich diesen Ort in den „Frauenmärschen“. Er war nicht a priori da gewesen, aber sobald er entstand, wurde er zu etwas sehr Greifbarem und ausreichend Stabilem. Ich ging also weiter zu den „Frauenmärschen“,  auch später noch, als sich queere Menschen nicht mehr durch ihre Symbole zu erkennen gaben, weil diese Sichtbarkeit zu irgendeinem Zeitpunkt gefährlich geworden war. Ich wusste trotzdem, dass es hier für mich jetzt einen Platz gibt.

Es ist interessant, wie die Entstehung eines solchen Ortes vor sich geht. Es gab ja nicht eine:n Initiator:in. Das war etwas, was scheinbar „in der Luft lag“, woran viele gleichzeitig dachten, das schon reifte und bereit war, just „aufzutauchen“, sobald nur jemand diese offensichtliche, aber auch nicht völlig selbstverständliche Idee ausspricht – denn hinter ihr steht die lange Geschichte des Kampfes um den eigenen Platz.

III

Am 5. September gingen wir als grelle, auffällige Gruppe durch die Komarowskij-Marktreihen zum allgemeinen Sammelplatz, gleichzeitig versuchten wir, uns vor den Schergen zu verstecken. Mitarbeitende des Marktes und Passierende schauten uns an, in ihren fragenden Blicken sah ich, dass sie uns in keine der ihnen bekannten „Schubladen“ stecken konnten. Unsere Symbole waren ihnen unverständlich. Was bedeutet dieser Regenbogen? Worum geht es in ihren Parolen? Wer sind diese Leute?

„Aber sind das welche von uns oder nicht?“ – „Von uns.“

Ich kann in Worten nicht wiedergeben, was ich fühlte, als ich dieses kurze Gespräch hörte, als wir durch die Komarowskij-Reihen gingen. Mir steigen Tränen in die Augen, während ich darüber schreibe. So ein ungewohntes und lang ersehntes Gefühl der Akzeptanz, mit der du so lange nicht rechnest (ich erinnere mich an alle Geschichten der Ausgeschlossenheit von LGBT-Aktivist:innen aus den allgemeinen Protesten der Vorjahre), aber die du plötzlich bekommst. Du bist „eine:r von uns“.

Später folgte auf die Akzeptanz auch Abwehr. Wieder zwei ambivalente, entgegengesetzte Erfahrungen. Das heißt, du musst gleichzeitig sichtbar sein, damit ein Platz für dich entsteht, aber im selben Moment, wenn dieser dann entsteht, macht er dich auch verletzlich. Die LGBTQ-Leute waren die einzige soziale Gruppe, die man versuchte, nachdem sie sich zu erkennen gegeben hatte, aus den Protesten auszuschließen. So „schaufelst“ du gleichzeitig deine Sichtbarkeit frei, aber du wirst auch zu ihr gezwungen, denn sonst kannst du nicht behaupten, dass du an den Protesten beteiligt warst. Es ist bezeichnend, dass in vielen Quellen das Auftauchen des Queer-Blocks innerhalb der Proteste so beschrieben wird, als hätte sich „die LGBT-Community auch den Protesten in Minsk angeschlossen“. Eine solche Angabe rief ein Gefühl der Zufriedenheit hervor, aber brachte gleichzeitig auch einen Schmerz mit sich, denn wir waren ja nicht „aufgetaucht“, hatten uns nicht „angeschlossen“ und so weiter. LGBTQ Personen waren von Anfang an dabei – als Beobachtende in den Wahllokalen, in den Teams der alternativen Kandidierenden, auf den Straßen und in Freiwilligen-Initiativen. Wir waren immer hier, aber erst jetzt haben wir uns kenntlich gemacht. Und sobald wir uns zu erkennen gaben, wurden wir auch mit Aggression konfrontiert.

IV

Die Parolen „Das ist unsere Stadt“ und „Wir sind hier die Macht!“ waren zuerst auf einem der „Frauenmärsche“ aufgetaucht, später festigten sie sich auch auf den großen Sonntagsdemos. Ich habe viel Zeit meines Aktivismus’ dem Thema der Aneignung der Stadtgeschichte durch die LGBTQ-Community gewidmet. Ich habe Interviews mit Aktivist:innen der letzten Jahre geführt, erzählte die Geschichten von für die LGBTQ-Community bedeutenden Plätzen und brachte jene queeren Orte zurück auf den allgemeinen Stadtplan. Darum verband die Parole „Das ist unsere Stadt“ für mich gleichzeitig mehrere Gedanken – in ihr konnten sich (wieder) zwei meiner Identitäten wiederfinden und verbinden: der Belarus:in und der queeren Person. Als ich den Spruch zusammen mit anderen Menschen rief, begann alles in mir zu zittern und ich fühlte mich endlich als ein Ganzes.

Mein zweitliebster Sprechchor ist ein Appell, der als Antwort auf die Versuche entstanden war, die Protestierenden zu marginalisieren, indem man sie als „Schafe“, „Prostituierte“ und „Faulpelze“ bezeichnete. Zu Beginn gab es vonseiten der Protestierenden noch Versuche, sich von diesen Bezeichnungen zu distanzieren, ziemlich viele Plakate erklärten „Wir sind keine Schafe!“, „Keine Prostituierte, sondern Mutter“ usw. Aber sukzessive wurden diese verdrängt durch andere Plakate: „Prostituierte sind im Volk“, „Junkies sind im Volk“, „Wie Minsk durch Junkies und Prostituierte schöner wurde“. Und am Ende transformierten sich diese Aussagen in einen Sprechchor, den ich ebenso liebe wie die Parole „Das ist unsere Stadt“, die in meinem Körper ein ebensolches Zittern hervorrief:

„Sind die Schafe hier?“ – „Hier!“ – „Sind die Junkies hier?“ – „Hier!“ – „Sind die Prostituierten hier?“ – „Hier!“ – „Sind die Faulpelze hier?“ – „Hier!“

„Alle sind hier!“

Übersetzung aus dem Russischen: Peggy Lohse

 

  • 1. Im Dezember 2010 fanden in Anschluss an die Präsidentschaftswahlen Großdemonstrationen in Minsk statt. Auch sie wurden mit großem Polizeiaufgebot, Blendgranaten und Massenverhaftungen niedergeschlagen.
  • 2. „Food not Bombs“ („Essen statt Bomben“) ist eine weltweite Bewegung, die unverkauftes Essen von Supermärkten und anderen Produzenten einsammelt und kostenlos (z.B. in Form von vegetarischen Speisen) an Bedürftige umverteilt. Die Bewegung ist eng mit anarchistischen und antikapitalistischen Ideen verbunden. Wie in vielen anderen Ländern der Welt, wird sie auch in Belarus kriminalisiert: https://freedomnews.org.uk/2021/01/28/belarus-food-not-bombs-activists-receive-prison-sentences-for-giving-away-food/
  • 3. Kascha kann für alle möglichen Arten von Brei, Grütze oder Suppe stehen. Hier ist damit das Essen gemeint, das von „Food Not Bombs“ verteilt wird.
  • 4. „Lesbians and Gays Support the Miners“ war eine Protestbewegung im Großbritannien der 80er Jahre, in dem schwule und lesbische Aktivist:innen die Bergarbeiterstreiks öffentlich unterstützten. Bei den Protesten in Belarus wurde mit diesem Banner die Unterstützung der streikenden Arbeiter:innen zum Ausdruck gebracht. „Hähne“ und „Schafe“ sind abfällige Begriffe für Schwule und Frauen/Lesben.
  • 5. OMON ist eine Spezialeinheit der belarusischen Polizei, die vor allem auf das Niederschlagen von Aufständen trainiert ist. Dieser Spruch bezieht sich auf den Satz „Wie sollen wir Lesben und Schwule unseren Kindern erklären?“, der regelmäßig in Zusammenhang mit der öffentlichen Sichtbarkeit der LGBTQ*-Community fällt. In dem Wortspiel wird deutlich, wie absurd dieser Satz ist: dass man Kindern die grausamen Handlungen des OMON anscheinend besser erklären könne, als die Tatsache, dass es Lesben und Schwule gibt.
  • 6. Mit diesem homofeindlichen Ausdruck wurden die Bereitschaftspolizisten bei den Protesten häufig beschimpft. Er bedeutet übersetzt ungefähr „Schwanzlutscher“.
  • 7. Der „Platz des Wandels“ ist ein Minsker Hinterhof, der sich seit dem 18. August 2020 zum Zentrum des Gedenkens der Opfer der staatlichen Repressionen und der Protestbewegung entwickelte. Mehr dazu: https://www.dekoder.org/de/article/platz-wandel-minsk-belarus-protest
  • 8. Akreszina (russ. Okrestina) ist eine Untersuchungshaftanstalt in der gleichnamigen Straße in Minsk. Dort wurden nach den Protesten viele Protestierende inhaftiert.
  • 9. Aljaxandr Tarajkouski war ein Demonstrant, der bei den Protesten am 10. August 2020 in Minsk von Sicherheitskräften erschossen wurde. Ein Video, das am 15. August veröffentlicht wurde, zeigt, wie er sich mit erhobenen leeren Händen Polizisten näherte, vor ihnen stehen blieb und dann erschossen wurde.
     
  • 10. Als „Rote Kirche“ wird in Minsk umgangssprachlich die katholische Kirche des Heiligen Simon und der Heiligen Helena bezeichnet, ein leuchtend roter Backsteinbau im Stil der Neoromantik.

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