Was ist neu in meinem Rucksack
Rassismus in der Ukraine wird hauptsächlich vor dem Hintergrund anderer Länder, und zwar durch den Vergleich mit ihnen, diskutiert. Meistens kommen weiße Experten zu Wort. Im Grunde ist es zum guten Ton geworden, Rassismus zu leugnen. Es gibt sogar eine „goldene Sammlung“ an Argumenten, wie z. B. „wir haben keinen Rassismus, weil hier alle weiß sind“, „es gibt keinen Rassismus, weil es bei uns keine Sklaverei gab, die Ukraine hat niemanden kolonisiert, sondern wurde kolonisiert“, „technisch gesehen ist es kein Rassismus, weil es eine Frage der Klasse ist, nicht der Ethnie“, „wenn Weißsein Zugang zu Privilegien und Reichtum bedeutet, dann ist jede*r in der Ukraine rassifiziert“ usw. Es gibt jedoch eine Art und Weise, wie weiße bereit sind, über Rassismus zu hören/lesen:
- ein Foto von einer nicht weißen Person sollte diese plötzlich abgelichtet zeigen. Sie kann zwar posieren, aber sie sollte dann ziemlich hilflos aussehen;
- wenn ihr Fotos von Rassist*innen veröffentlicht, fragt sie, ob sie nichts dagegen haben, ihre Gesichter zu zeigen. Wenn sie nicht einverstanden sind, retuschiert das Foto; wenn sie einwilligen, nehmt ein Foto von ihrem Instagram, auf dem sie sich gefallen;
- gebt nicht weißen Personen keine Stimme;
- oder lasst eine nicht weiße Person von ihren persönlichen Rassismus Erfahrungen erzählen und klarstellen, dass es sich um einen Einzelfall handelt und dass weiße im Allgemeinen nicht so sind;
- wenn auf Facebook eine Diskussion stattfindet, lasst Rassist*innen den Raum sich zu äußern, löscht Hasskommentare nicht; löscht Kommentare von nicht weißen Menschen, damit sie den weißen nicht die Stimmung vermiesen;
- richtet eure Informationen ausschließlich an weiße und sprecht mit den Menschen so, als ob sie noch nie etwas mit Rassismus zu tun gehabt hätten.
Am Vorabend des diesjährigen Aufmarsches mit dem Motto „Holen wir die Ukraine den Ukrainern zurück“ traf ich einen Bekannten. Er schreibt einen Roman und betrachtet seine Teilnahme am Aufmarsch als Teil seiner Arbeit am Buch. Er sagte: „Letztes Jahr habe ich sogar eine Fackel getragen.“ Ich fragte ihn, ob er bei den Pogromen dabei gewesen sei. Er sagte nein. Letztlich ist es diese Möglichkeit, Rassismus aus einer, seiner Meinung nach, neutralen Position heraus zu erforschen, die sein Weißsein so offensichtlich macht. Er fragte mich, ob ich schon mal direkt bedroht worden sei. Um ehrlich zu sein, ist das meine „Lieblingsmethode“, wie man gern überprüft, ob ich weiß, wovon ich rede. Vielleicht ist dies ein guter Zeitpunkt, um das Familienalbum mit Daten, Beweismitteln und Telefonnummern von echten Zeug*innen einer direkten Bedrohung aufzuschlagen.
Ich verfüge zwar nicht über „blutige Fakten“, habe aber eine unvollständige Liste von Fällen alltäglichen Rassismus zusammengestellt. Diese Fälle sind so klein und alltäglich, dass es sich nicht einmal lohnt, sie alle im Gedächtnis zu behalten, um diesen Kontrollpunkt im Kopf der erstbesten Person zu passieren, die so weiß ist, dass Rassismus für sie nicht existiert. Aber, bitte, hier sind sie:
- in Supermärkten werde ich fast immer aufgefordert, den Inhalt meiner Tasche zu zeigen. Selbst wenn ich mit einer Gruppe reingehe, wird die Security mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit nur mich bitten, meine Tasche zu zeigen;
- fast jedes Mal, wenn ich jemanden kennenlerne, werde ich gefragt, woher ich komme. Oder anders: „Ich höre, Sie sprechen gut Ukrainisch/Russisch - woher kommen Ihre Eltern?“
- oft fragen mich Menschen, die zumindest eine Armenierin, Georgierin oder Aserbaidschanerin kennen, ob ich sie auch kenne. Oder vor Kurzem: Bei einem runden Tisch führte mich eine Menschenrechtsaktivistin zu einer jungen Frau aus Armenien und sagte zu ihr: „Das ist Mariam, sie ist auch Armenierin, das könnte dich interessieren“ und ging;
- Menschen erzählen mir Witze, in denen sie „Armenier“ durch „Aserbaidschaner“ ersetzen, die ich wohl witzig finden müsste, weil „wir“ einen Krieg hatten;
- meine antimilitaristische Haltung wird mit meinem vermeintlichen „Traumata“ erklärt: „Du kannst mit mir immer über Karabach sprechen. Ich verstehe, es ist eine persönliche Geschichte...“;
- die meisten Arbeitskolleg*innen, mit denen ich gearbeitet habe, hatten eine Sammlung von Witzen über „kaukasische Akzente“, „Pejsaty“ [Anm. d. Ü.: vom Wort „пейс“, dt.: Peyes, spielt auf orthodoxe Juden an, die Schläfenlocken tragen] usw.;
Ich habe mehrere Monate lang als Office Managerin in einer Organisation gearbeitet. Das ist nicht lange, aber alle Mitarbeitenden sahen mich mehrmals am Tag. Nachdem einige Zeit seit meiner Kündigung vergangen war, bin ich in der Stadt einem ehemaligen Kollegen begegnet. Er fragte mich, wie es mir ginge, obwohl er „wusste“, dass ich zu der Show „Jeder tanzt!“ gegangen war (wo ich natürlich nie war). Und wisst ihr, warum? Weil es dort eine Teilnehmerin namens Mariam gab.
Das ist natürlich nicht alles - da wäre noch der internalisierte Rassismus. Einmal, auf einer Summer School zum Thema Gender, sprachen eine Freundin und ich darüber, warum es uns früher so wichtig war, darauf hinzuweisen, dass unsere Eltern blondes Haar und helle Augen haben. Das geschah immer in einem lockeren, unterhaltsamen Rahmen, in etwa so:
- Oh, du bist eine Armenierin! Ich sehe, du hast typische schwarze Augen und Haare!
- Das wird Sie schockieren, aber mein Vater ist hundertprozentiger Armenier und er hat rote Haare und grüne Augen! Nur wenige Menschen wissen das, aber Armenier – typische, klassische Armenier – sind helläugig!
Ich verfüge zwar nicht über „blutige Fakten“, aber ich weiß, wann Hitlers Geburtstag ist. Denn als ich zur Schule ging, wurde mir gesagt, ich soll an diesem Tag nicht zu spät nach Hause kommen. Ich weiß, wie es ist, um 6 Uhr morgens von der Polizei angerufen und aufgefordert zu werden, die Seriennummer eines Kassettenrekorders durchzugeben, weil sie nicht glaubt, dass ein nicht weißer Junge (mein Bruder) mit seinem eigenen Kassettenrekorder durch die Straßen gehen kann. Auch wenn mein Bruder abgestritten hat, dass es sich um Rassismus handelt. Als Beispiele für Rassismus für diesen Text erinnerte er sich an regelmäßige Ausweiskontrollen: eine Streife konnte ihn auf seinem Weg zur Arbeit von Podil nach Solomyanka dreimal anhalten, und die Abfragen nach seiner Nationalität in den 2000er Jahren.
Ich weiß, wie es ist, wenn ein Polizist nicht zur Verantwortung gezogen wird, wenn er mir gegenüber gegen das Gesetz verstoßen hat, aber meinem Vater und meinem Bruder vorgeschlagen wird, es mit ihm „wie ein Mann“ zu regeln, wenn dieser in Zivil ist.
Ich weiß, wie das funktioniert: Kriminalstatistiken, in denen mehrheitlich die Nationalitäten der nicht weißen Personen verzeichnet sind – der Angehörige dieser und jener Region, eine Bürgerin dieses und jenes Landes – erschaffen die Illusion, als ob Verbrechen von nicht weißen, Ausländer*innen und einer dritten abstrakten Gruppe (weißen) begangen würden. Selbst meine mathematischen Kenntnisse reichen aus, um zu berechnen, dass die Zahl der von nicht weißen Menschen begangenen Straftaten verschwindend gering ist. Dies wird aber nicht zum Anlass genommen, anzuerkennen, dass die unmittelbare Gefahr von weißen ausgeht. Sie organisieren Pogrome, tragen Fackeln durch die Stadt und skandieren „angeeignete“ Nazi-Parolen, und vor allem haben sie die Macht.
An dieser Stelle versuche ich mich zu weigern zu schreiben, dass mein Bruder und mein Vater nicht wirklich Faustkämpfe praktizieren ̶– sie sind Intellektuelle. Aber ich werde es trotzdem schreiben und erneut meinen internalisierten Rassismus demonstrieren, denn ich muss ihre Gebildetheit bezeugen.
Ich habe auch Kommentare von weißen Männern erhalten, dass ich wohl heißblütig und temperamentvoll sei – und das, falls unklar, sollte ein Kompliment sein. Sie erzählen mir zum Beispiel, dass sie Sex mit einer Frau derselben Ethnie hatten und dass es großartig war.
Mehrmals wurden mir Hormontests verschrieben, weil ich „atypischen Haarwuchs“ habe (atypisch für wen?). Diese Tests kosten Geld, wisst ihr?
Nach einer Durchsuchung in Geschäften entschuldigen sie sich normalerweise nicht bei mir ̶ ganz nach dem Motto: „Na gut, diesmal haben wir dich nicht auf frischer Tat ertappt“. Sie machen nur ihre Arbeit, und es ist nicht ihr Problem, dass ich nichts gestohlen oder kein Preisetikett von den billigen auf die teuren Tomaten geklebt habe. Es ist eine Aufführung für weiße, kurz und prägnant: „Hier wird für Ihre Sicherheit gesorgt, machen Sie sich keine Sorgen“. So funktioniert das.
Ich kenne mich mit bestimmten Themen aus eigener Erfahrung gut aus, aber das macht mich nicht kompetent, sondern stempelt mich ungerechtfertigt als böse und intolerant ab. Und das macht mich extrem wütend. Na, Mariam redet wieder über Rassismus, gleich sagt sie noch, dass hier nur Männer mitbedacht sind, das kommt also auch noch, was für ein komplizierter Mensch sie ist...
Wut als Tabu, das Frauen auferlegt wird, wird durch das Verbot nicht weißer Wut noch verstärkt. Ich sollte wohl sagen, dass es auch gute, tolerante weiße gibt, und ich sollte wohl mit Hilfe gewaltfreier Kommunikation über Rassismus sprechen. Aber ich bin ziemlich wütend und dafür gibt es Gründe. Ich möchte niemanden beruhigen.
Der Text wurde im Rahmen des Projekts „Politische Ökonomie des Geschlechts“ am Zentrum für Sozial- und Arbeitsforschung mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der Ukraine erstellt.


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